Landwirtschaft und Gesellschaft von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart

Landwirtschaft und Gesellschaft von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart

Organisatoren
Arbeitskreis für Umwelt- und Agrargeschichte
Ort
Feldbrunnen (bei Solothurn)
Land
Switzerland
Vom - Bis
11.10.2002 - 12.10.2002
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Von
Ernst Langthaler, Institut für die Geschichte des ländlichern Raumes, Ludwig Boltzmann Gesellschaft; Josef Redl, St. Pölten

Agrargeschichte wohin? Reflexionen zur Tagung „Landwirtschaft und Gesellschaft von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“

Parallel zur öffentlichen, durch BSE-Rindfleisch, Schweinemastskandal und Dioxin-Hühner angeheizten Debatte um eine „Agrarwende“1 – und wohl auch damit im Zusammenhang – gewinnen im deutschsprachigen Raum auch in den Geschichtswissenschaften agrarische Fragen an Gewicht. „Die Agrargeschichte befindet sich zweifellos wieder im Aufstieg,“2 lautete Mitte der neunziger Jahre die Einschätzung eines ihrer Protagonisten. Anzeichen für eine solche agrarhistorische Konjunktur sind die in den letzten Jahren gegründeten Vereinigungen von ForscherInnen. Im Jahr 1994 bildete sich in Deutschland der Arbeitskreis für Agrargeschichte (AKA), in dessen Umkreis bereits eine Einführung, mehrere Tagungsbände und der AKA-Newsletter erschienen sind;3 zudem beteiligen sich Mitglieder des AKA an der inhaltlichen und formalen Erneuerung der Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie, dem wichtigsten agrarhistorischen Periodikum im deutschsprachigen Raum. Der im Jahr 1997 ins Leben gerufene Verein für österreichische Agrargeschichte initiierte eine umfassende Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft im 20. Jahrhundert.4 Diese österreichischen Aktivitäten fanden eine Fortsetzung im 2002 gegründeten Ludwig Boltzmann Institut für die Geschichte des ländlichen Raumes, das sich der agrarhistorischen Dokumentation, Forschung und Vernetzung widmet. In der Schweiz wurde zur Sicherung, Erschließung und Auswertung agrarhistorischen Quellenmaterials an der Hochschule für Landwirtschaft in Zollikofen das Archiv für Agrargeschichte eingerichtet. Zudem fand sich im Jahr 2001 der Arbeitskreis Agrar- und Umweltgeschichte zusammen,5 dessen von 11. bis 12. Oktober 2002 in Feldbrunnen bei Solothurn stattgefundene Tagung „Landwirtschaft und Gesellschaft von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“ den Anlass für diese Reflexionen geboten hat. An den Vorträgen und Diskussionen dieser Tagung versuchen wir, gegenwärtige Tendenzen der Agrargeschichtsforschung im deutschsprachigen Raum zu erkennen; denn der vielfach konstatierte „Aufstieg“ der Agrargeschichte wirft die Frage nach dem Wohin auf.

Erstens: Die agrarhistorische Forschung ist durch die Spannung zwischen ‚materialistischen‘ und ‚idealistischen‘ Ansätzen gekennzeichnet. Vor allem VertreterInnen der Umweltgeschichte richten ihr Augenmerk auf Stoff- und Energieflüsse in agrarischen Systemen. Nach Christian Pfister (Bern) sei das „ancien régime écologique“ erst Mitte des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem „1950er Syndrom“ zu Ende gegangen: Die „erste“ und die „zweite Agrarrevolution“ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts basierten auf endogenen Inputs wie neuen Kulturpflanzen, Fruchtwechselwirtschaft oder vermehrtem Düngeranfall durch Stallfütterung („traditional intensive agriculture“ als weitgehend geschlossenes System) und auf beschränkten exogenen Inputs wie gezogener und dampfbetriebener Maschinen („mechanized agriculture“ als halboffenes System). Dagegen bildete der umfassende Einsatz exogener Inputs wie Saatgut, Chemikalien und Treibstoffen die Basis für die „dritte Agrarrevolution“ des späten 20. Jahrhunderts („high input agriculture“ als weitgehend offenes System). In ähnlicher Weise, jedoch das Konzept der „Kreislaufwirtschaft“ relativierend, markiert Verena Winiwarter (Wien) den Übergang vom Primat der Solarenergie zum Primat der fossilen Energieträger als die entscheidende Zäsur der „Agrarmodernisierung“. Die Wechselwirkungen von Stoff- und Energieflüssen mit Zeichenflüssen oder, allgemeiner, des ‚Materiellen‘ mit dem ‚Ideellen‘, treten demgegenüber in den Hintergrund. Als einer von wenigen TeilnehmerInnen betont Hansjörg Siegenthaler (Zürich) mit eingängigen Beispielen – etwa den Bäuerinnen, die mit dem Mercedes zum Trachtenkurs anreisen – die identitätsstiftende Funktion ‚erfundener Traditionen‘ in Zeiten beschleunigten Wandels.

Zweitens: Der agrarhistorische Fokus erweitert sich von der landwirtschaftlichen Produktion in Richtung der Konsumtion von Nahrungsmitteln. Josef Mooser (Basel), der für die Einbettung der Agrargeschichte in die Geschichte der Gesellschaft plädiert, betrachtet die bäuerlichen BetriebsbesitzerInnen im 20. Jahrhundert als „Rohstoffproduzenten in einem agrarisch-industriellen System der Ernährungswirtschaft“. In ähnlicher Weise sieht Christian Pfister das ‚kurze 20. Jahrhundert‘ vom Beginn des Zeitalters der Weltkriege bis zum Ende des Zeitalters des Kalten Krieges durch das agrarpolitische Leitbild der „Ernährungssicherheit des Volkes“ gekennzeichnet. Eng damit verknüpft war, wie Niek Koning (Wageningen) ausführt, die „subventionierte Überproduktion“ im Rahmen des fordistischen Interessenarrangements von ProduzentInnen und KonsumentInnen nach dem Zweiten Weltkrieg. Hinter der proklamierten „Einkommensparität“ stand ein „Tauschhandel“ (Hansjörg Siegenthaler) von protektionistischer Existenzsicherung gegenüber der Bauernschaft und politischer Loyalität gegenüber den bürgerlichen Eliten. Doch selbst Bauernführer wie Ernst Laur kalkulierten gemäß der Devise ‚Wachsen oder Weichen‘ – und mitbedingt durch den Übergang von der Besitz- zur Eigentumslogik (Rolf Steppacher, Binningen) – einen „Strukturwandel“ ein; dieser wird gegenwärtig in der Schweiz, wie Roger Schwarzenbach (Zollikofen) ausführt, auf einen jährlichen Rückgang der Zahl der Betriebe von mindestens 3 Prozent beziffert. Der Übergang vom ökonomischen zum ökologischen Paradigma seit den achtziger Jahren, der den Einkommenschwerpunkt von den subventionierten Hochpreisen für Agrargüter zu öffentlichen Zahlungen für bäuerliche „Landschaftspflege“ verlagerte, folgte dem Postulat der „Globalisierungskompatibilität“ (Hansjörg Siegenthaler) der schweizerischen Landwirtschaft.

Drittens: Neuere agrarhistorische Forschungen bewegen sich vielfach auf einer mittleren Ebene zwischen Mikro- und Makrogeschichte. Das zeigen etwa die Beiträge jüngerer ForscherInnen aus der Schweiz über die Entstehung der Lebensmittelindustrie und die Mediatisierung der Nahrung seit dem späten 19. Jahrhundert (Roman Rossfeld, Zürich), die Kartellbildungen in der Käsewirtschaft während des Ersten Weltkrieges (Beat Brodbeck, Bern), die agrarpolitischen Auseinandersetzungen um die Industrialisierung des Familienbetriebes in den fünfziger und sechziger Jahren (Andreas Lüthi, Bern) und die Entwicklung der Landwirtschaft im Kanton Fribourg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Anne Philipona Romanens, Marsens). Dass damit das Problem der „agency“, der Vermittlung von Strukturen und Praktiken, noch nicht gelöst ist, wird in der Diskussion etwa am Verhältnis von agrarischem Expertenwissen und bäuerlichem Erfahrungswissen deutlich. Auf einer solchen Mesoebene wäre auch die noch über weite Strecken ungeschriebene Geschichte der Agrarwissenschaften angesiedelt, für die Josef Mooser und Verena Winiwarter plädieren. Solche wissenschaftshistorisch-reflexiven Betrachtungen müssten auch die Geschichte der Agrarhistoriografie – und damit auch die Verstrickung von VertreterInnen dieses Faches in diktatorische Herrschaftssysteme faschistischer und kommunistischer Prägung – zur Sprache bringen. Denn die laut Peter Moser (Zollikofen) noch in vielerlei Hinsicht unbeantwortete Frage nach dem Wohin der Agrargeschichte wirft, so meinen wir, auch jene nach dem Woher auf.6

1 Aus der Fülle an fach- und populärwissenschaftlicher Literatur zur „Agrarwende“ vgl. Ulrich Kluge, Ökowende. Agrarpolitik zwischen Reform und Rinderwahnsinn, Berlin 2001; Götz Schmidt u. Ulrich Jasper, Agrarwende oder die Zukunft unserer Ernährung, München 2001; Franz Alt, Agrarwende jetzt. Gesunde Lebensmittel für alle, München 2001; AgrarBündnis, Hg., Landwirtschaft 2002. Der kritische Agrarbericht. Mit Texten zur Agrarwende, Kassel, Rheda-Wiedenbrück u. Hamm 2001.
2 Werner Rösener, Einführung in die Agrargeschichte, Darmstadt 1997, VII.
3 Vgl. Rösener, Agrargeschichte, wie Anm. 2; Werner Troßbach u. Clemens Zimmermann, Hg., Agrargeschichte. Positionen und Perspektiven, Stuttgart 1998, Werner Rösener, Hg., Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Modere, Göttingen 2000; Clemens Zimmermann, Hg., Dorf und Stadt. Ihre Beziehungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2001. Siehe auch den aus einer Tagung des Arbeitskreises für die Geschichte des Landes Niedersachsen entstandenen Sammelbandes von Daniela Münkel, Hg., Der lange Abschied vom Agrarland. Agrarpolitik, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft zwischen Weimar und Bonn, Göttingen 2000, und den aus einer Tagung des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte hervorgegangenen Sammelband von Karl Ditt, Rita Gudermann u. Norwich Rüße, Hg., Agrarmodernisierung und ökologische Folgen. Westfalen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn u.a. 2001. Auf die Fülle neuerer agrarhistorischer Monografien und Aufsätze kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden. Die lieferbaren Hefte der bisher zwölf Ausgaben des AKA-Newsletter sind beim Herausgeber Frank Konersmann (fkonersm@geschichte.uni-bielefeld.de) erhältlich. Der AKA betreibt auch eine Homepage (www.agrargeschichte.de), die Literaturhinweise, Veranstaltungsberichte und weiterführende Links enthält.
4 Vgl. Ernst Bruckmüller u.a., Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 1: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Wien 2002; ders., Ernst Hanisch u. Roman Sandgruber, Hg., Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 2: Regionen, Betriebe, Menschen, Wien 2003 [im Druck].
5 An neueren agrarhistorischen Veröffentlichungen von Mitgliedern dieses Arbeitskreises vgl. Christian Pfister, Im Strom der Modernisierung. Bevölkerung, Wirtschaft und Umwelt im Kanton Bern 1700-1914, Bern 1995; Jon Mathieu, Geschichte der Alpen 1500-1900. Umwelt, Entwicklung, Gesellschaft, Wien, Köln u. Weimar 1998; Werner Baumann u. Peter Moser, Bauern im Industriestaat. Agrarpolitische Konzeptionen und bäuerliche Bewegungen in der Schweiz 1918-1968, Zürich 1999; Josef Mooser, Das Verschwinden der Bauern. Überlegungen zur Sozialgeschichte der „Entagrarisierung“ und Modernisierung der Landwirtschaft im 20. Jahrhundert, in: Münkel, Hg., Der lange Abschied, wie Anm. 3, 23-35.
6 Als einen der ersten Versuche vgl. Peter Blickle, Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Troßbach u. Zimmermann, Hg., Agrargeschichte, wie Anm. 3, 7-32.

Kontakt

Ernst Langthaler(ernst.langthaler@noel.gv.at), Josef Redl (josef.redl@noel.gv.at), Ludwig Boltzmann Institut für die Geschichte des ländlichen Raumes, St. Pölten


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